Wednesday, April 12. 2006
In meiner Jugend war es ueblich, dass an grossen Festtagen der Kirche etwas aus der heiligen Schrift, oder aehnlichem vorgelesen wurde. Gesprochene Worte die zu beachten waren und ueber die in Ruhe nachgedacht werden sollte. Nun, es steht Ostern vor der Tuer und ich setze diese Tradition fort. Allerdings, so sicher wie ich auf der einen Seite Gott fuehlen kann, so bestimmt lehne ich das Construct katholische Kirche fuer mich ab.
Deshalb ist es auch nicht die heilige Schrift, sondern ein Artikel von Goethe erschienen 1783 im Tiefurter Journal der mich sehr beeindruckt und zum Nachdenken gebracht hat.
Die Natur
Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen - unvermoegend, aus ihr herauszutreten, und unvermoegend, tiefer in sie hineinzukommen.
Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermuedet sind und ihrem Arme entfallen.
Sie schafft ewig neue Gestalten, was da ist, war noch nie, was war, kommt nicht wieder - alles ist neu, und doch immer das Alte.
Wir leben mitten in ihr, und sind ihr fremde. Sie spricht unaufhoerlich mit uns und verraet uns ihr Geheimnis nicht. Wir wirken bestaendig auf sie, und haben doch keine Gewalt ueber sie.
Sie scheint alles auf Individualitaet angelegt zu haben, und macht sich nichts aus den Individuen. Sie baut immer und zerstoert immer, und ihre Werkstaette ist unzugaenglich.
Sie lebt in lauter Kindern, und die Mutter, wo ist sie? - Sie ist die einzige Kuenstlerin: aus dem simpelsten Stoff zu den groessten Kontrasten; ohne Schein der Anstrengung zu der groessten Vollendung - zur genauesten Bestimmtheit, immer mit etwas Weichem ueberzogen. Jedes ihrer Werke hat ein eigenes Wesen, jede ihrer Erscheinungen den isoliertesten Begriff, und doch macht alles eins aus.
Sie spielt ein Schauspiel: ob sie es selbst sieht, wissen wir nicht, und doch spielt sie es fuer uns, die wir in der Ecke stehen.
Es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr, und doch rueckt sie nicht weiter. Sie verwandelt sich ewig, und ist kein Moment Stillstehen in ihr. Fuers Bleiben hat sie keinen Begriff, und ihren Fluch hat sie ans Stillestehen gehaengt. Sie ist fest. Ihr Tritt ist gemessen, ihrer Ausnahmen selten, ihrer Gesetze unwandelbar.
Gedacht hat sie und sinnt bestaendig; aber nicht als Mensch sondern als Natur. Sie hat sich einen eigenen, allumfassenden Sinn vorbehalten, den ihr niemand abmerken kann.
Die Menschen sind alle in ihr und sie in allen. Mit allen treibt sie ein freundliches Spiel, und freut sich, je mehr man ihr abgewinnt. Sie treibt es mit vielen so im Verborgenen, dass sie es zu Ende spielt ehe sie es merken.
Auch das Unnatuerlichste ist Natur, auch die plumste Philisterei hat etwas von ihrem Genie. Wer sie nicht allenthalben sieht, sieht sie nirgendwo recht.
Sie liebt sich selber und haftet ewig mit Augen und Herzen ohne Zahl an sich selbst. Sie ist auseinandergesetzt, um sich selbst zu geniessen. Immer laesst sie neue Geniesser erwachen, unersaettlich sich mitzuteilen.
Sie freut sich an der Illusion. Wer diese in sich und anderen zerstoert, den straft sie als der strengste Tyrann. Wer ihr zutraulich folgt, den drueckt sie wie ein Kind an ihr Herz.
Ihrer Kinder sind ohne Zahl. Keinem ist sie ueberall karg, aber sie hat Lieblinge, an die sie viel verschwendet und denen sie viel aufopfert. Ans Grosse hat sie ihren Schutz geknuepft.
Sie spritzt ihre Geschoepfe aus dem Nichts hervor und sagt ihnen nicht, woher sie kommen und wohin sie gehen. Sie sollen nur laufen; die Bahn kennt sie. Sie hat wenige Triebfedern, aber nie abgenutzte, immer wirksam, immer mannigfaltig.
Ihr Schauspiel ist immer neu, weil sie immer neue Zuschauer schafft. Leben ist ihrer schoenste Erfindung, und der Tod ist ihr Kunstgriff, viel Leben zu erhalten.
Sie huellt den Menschen in Dunkelheit ein und spornt ihn ewig zum Lichte. Sie macht ihn abhaengig zur Erde, traeg und schwer, und schuettelt ihn immer wieder auf.
Sie gibt Beduerfnisse, weil sie Bewegung liebt. Wunder, dass sie alle diese Bewegung mit so wenigem erreicht. Jedes Beduerfnis ist Wohltat; schnell befriedigt, schnell wieder erwachsend. Gibt sie eins mehr, so ist es ein neuer Quell der Lust; aber sie kommt bald ins Gleichgewicht.
Sie setzt alle Augenblicke zum laengsten Lauf an, und ist alle Augenblicke am Ziele.
Sie ist die Eitelkeit selbst, aber nicht fuer uns, denen sie sich zur groessten Wichtigkeit gemacht hat.
Sie laesst jedes Kind an sich kuensteln, jeden Toren ueber sich richten. Tausende stumpf ueber sich hingehen und nichts sehen, und hat an allen ihre Freude und findet bei allen ihre Rechnung.
Man gehorcht ihren Gesetzen, auch wenn man ihnen widerstrebt, man wirkt mit ihr, auch wenn man gegen sie wirken will.
Sie macht alles, was sie gibt, zur Wohltat, denn sie macht es erst unentbehrlich. Sie saeumet, dass man sie verlange; sie eilet, dass man sie nicht satt werde.
Sie hat keine Sprache noch Rede, aber sie schafft Zungen und Herzen, durch die sie fuehlt und spricht.
Ihre Krone ist die Liebe. Nur durch sie kommt man ihr nahe. Sie macht Kluefte zwischen allen Wesen, und alles will sie verschlingen. Sie hat alles isoliert, um alles zusammenzuziehen. Durch ein paar Zuege aus dem Becher der Liebe haelt sie fuer ein Leben voll Muehe schadlos.
Sie ist alles. Sie belohnt sich selbst und sie bestraft sich selbst, erfreut und quaelt sich selbst. Sie ist rauh und gelinde, lieblich und schrecklich, kraftlos und allgewaltig. Alles ist immer da in ihr. Vergangenheit und Zukunft kennt sie nicht. Gegenwart ist ihre Ewigkeit. Sie ist guetig. Ich preise sie mit allen ihren Werken. Sie ist weise und still. Man reisst ihr keine Erklaerung vom Leibe, trutzt ihr kein Geschenk ab, dass sie nicht freiwillig gibt. Sie ist listig, aber zum guten Ziele, und am besten ist es ihre List nicht zu merken. Sie ist ganz, und doch immer unvollendet. So wie sie es treibt, kann sie es immer treiben.
Jedem erscheint sie in einer eignen Gestalt. Sie verbirgt sich in tausend Namen und Termen, und ist immer die selbe.
Sie hat mich hereingestellt, sie wird mich auch herausfuehren. Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten. Sie wird ihr Werk nicht hassen. Nein, was wahr ist und was falsch ist, alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst.
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